Zwei Roma, die beim Grenzwechsel wie Wildschweine erschossen werden: Merle Kröger hat den wahren, skandalösen Fall zu einem lesenswerten Kriminalroman verarbeitet.
Beim Krimi gehen Film und Literatur immer wieder zusammen, arbeiten gemeinsam an unserem Bild von Verbrechen,von Staat, Angst und Gerechtigkeit. Merle Kröger, 1967 in Plön geboren, Drehbuchautorin und Kriminalschriftstellerin,geht nicht den Standardweg vom Buch zum Film. Sie beherrscht beide Medien und gibt jeweils das Beste. Mit Philipp Scheffner hat sie gerade den sehr nachdenklich machenden Dokumentarfilm „Revision“ herausgebracht. Darin wird der Fall zweier Roma wieder – besser: erstmals gründlich – aufgerollt, die 1992 nach dem Übertritt über die polnisch-deutsche Grenze in einem Getreidefeld erschossen wurden. Eine Jagdgesellschaft,im Morgengrauen auf der Suche nach Trophäen, hatte sie mit Wildschweinen verwechselt. Obwohl dem ortskundigen Jagdführer bekannt war, dass diese Stellezur Einwanderung genutzt wurde. Der Film macht ihnen und einer von Fremdenhass und -angst zersetzten deutschen Gesellschaft den Prozess. Unbedingt sehenswert.
Gnadenlose Staatsmaschinerie und Indolenz der Täter auf der einen, das Leid der Familien auf der anderen Seite ergeben ein so erschütterndes, absurdes Bild, dass die Drehbuchautorin Merle Kröger wohl das Bedürfnis verspürt haben muss, den friedlosen Tatsachen, die der Film enthält, noch eine geschlossene Erzählung nachzutragen.
Das ist der vorliegende Kriminalroman „Grenzfall“. Er spiegelt die Filmwelt im Narrativ. Serienheldin Mattie Junghans leitete schon in Krögers zwei vorangegangenen Romanen „Cut!“ und „Kyai!“ (beide erschienen bei Ariadne) das untergehende Gewerbe eines Wanderkinos. Von diesem ist ihr in „Grenzfall“ nur noch ein Bus geblieben, der ihr als mobile Unterkunft und als Operationsbasis dient. Auf einem Berliner Parkplatz gerät sie in Kontakt mit einem Familienmitglied der Opfer von damals, und groß, wie ihr Herz schlägt, nimmt sie sich der Sache der Roma an. Die wollen wissen, was aus ihren Vätern und Brüdern geworden ist und ob diejenigen, die sie vor 20 Jahren erschossen haben, wenigstens bestraft wurden im schönen starken EU-Deutschland. Einreisen dürfen sie dorthin zwar inzwischen ganz legal. Aber werden sie wesentlich besser behandelt? Diesem Vergleich unterzieht sich Adriana am eigenen Leibe. Als junges Mädchen wartete sie vergeblich im Asylantenheim von Kollwitz auf den Vater und musste seine Leiche bergen. Jetzt ist sie zurückgekehrt und will den Jäger stellen, der den Vater getötet hat. Und wird, als dieser vom Balkon stürzt, stante pede als Mörderin verhaftet. Vor 20 Jahren gab es keine Gerechtigkeit für die Opfer, jetzt soll mit der vermeintlichen Täterin kurzer Prozess gemacht werden. Doch ein Bollywood-Star, ein aufrechtes Anwaltspaar, ein Journalist, ein Kampfsportler und die unverwüstliche Mattie sorgen dafür, dass die erfundene Geschichte ein wenig besser ausgeht als die tatsächlich geschehene – das ist schon beinahe märchenhaft.
Die Jury der KrimiZeit-Bestenliste setzte „Grenzfall“ im November auf Platz eins. Zu Recht.