Was der Krimi alles kann: Merle Kröger hat einen wahren Mord an Roma recherchiert und erzählt in ihrem dritten Thriller "Grenzfall" solange in die Lücken hinein, bis die Wahrheit zutage tritt.
(Von Elmar Krekeler)
Die Nacht auf den 29. Juni 1992 muss eine ziemlich helle gewesen sein. Es ist 3.45 Uhr auf einem Feld bei Nadrensee in Mecklenburg-Vorpommern. Greifswald, die Hansestadt, ist nicht weit. Die polnische Grenze auch nicht.
"Der Morgen dämmert. Die Gerste bewegt sich im Wind." Eben ist ein Schuss gefallen. Der Mann, der die Gerste sieht, liegt im Feld. Er stirbt. Der Mann neben ihm hat das mit dem Sterben schon hinter sich. Ihm fehlt der halbe Kopf.
Grigore Velcu heißt der eine, Eudache Calderar der andere. Sie kamen aus Rumänien. Sie waren Roma.
Man wollte keine Fremden
Ihre Mörder, heißt es später, haben sie mit Wildschweinen verwechselt. Vier Jahre später wird den Mördern der Prozess gemacht. Sie werden freigesprochen. Mit den Angehörigen der Toten hat niemand Kontakt aufgenommen, die Haftpflichtversicherung der Schützen nicht, die Staatsanwaltschaft ebenso wenig. War alles nicht so einfach in der Zeit für die Leute in der Gegend. Die Wende und so. Da ging’s drunter und drüber. Da wollte man keine Fremden, Zivilisationsverweigerer wie diese Roma schon gleich gar. Da hatte man ganz schnell vergessen, wie das ist, über eine grüne Grenze in die Freiheit zu fliehen.
"Grenzfall" – der beste deutsche Krimi 2012
Warum erzähl ich das? Weil es zum Verständnis von Merle Krögers "Grenzfall" nötig ist. Nicht, weil "Grenzfall" nicht auch ohne das realhistorische Fundament, auf der die 1967 in Plön geborene Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin ihren dritten Fall für die Halb-Inderin Mattie Junghans baut, der beste deutsche Krimi des Jahres geworden wäre.
Sondern weil es dem Beweis dient, dass Krimis, wenn man sie als Gesellschaftsromane ernst nimmt, wie kaum etwas sonst geeignet sind, gesellschaftliche, geschichtliche Zusammenhänge plastisch zumachen, einer Revision zu unterziehen.
"Revision" hieß auch der Dokumentarfilm, den Merle Kröger mit Philip Scheffner zusammen gemacht hat. Gut drei Jahre haben sie recherchiert, fast zwei Jahre in dem Dorf des Mordes gelebt, dem Weg, dem Leben der Roma, der Tsigani hinterher recherchiert – in Rumänien und in der ostdeutschen Provinz.
Die Wahrheit liegt in der Literatur
"Grenzfall" geht noch einen entscheidenden Schritt weiter als der Film. Es wuchert mit Erzählung die Lücken zu, die mit Recherche nicht zu füllen sind. Wuchert über den Fall hinaus. Und hier kommt Mattie Junghans ins Spiel.
Die steht eines Tages im Jahr 2012 am Treptower Park in Berlin mit ihrem alten Bus neben ein paar Wohnmobilen. Keine Camper, fahrendes Volk. Einer kommt vorbei. Schon steckt Mattie, die Frau ohne Lebensentwurf, die gerade in Berlin in einen neuen hineinschlüpfen wollte, als Assistentin eines Menschenrechtsanwalts.
Fast hundert Seiten waren wir bis dahin im Sommer des Jahres 1992 gewesen. In einem wilden Puzzle kürzester Kapitel hat Merle Kröger die Vorgeschichte des Mordes an zwei Roma auf einem Feld in der Nähe des Hansestädtchens Kollwitz zusammengesetzt.
Zwischen Transsylvanien und Greifswald
Die Geschichte der Mörder und der Opfer. Ein gewaltiges Personaltableau wird aufgestellt. Wir waren in Transsylvanien, in Frankfurt, in der Walachei und in Mecklenburg-Vorpommern. Zwei Wochen sinds noch hin bis zu den ausländerfeindlichen Aufständen von Rostock-Lichtenhagen. In Kollwitz werden Roma, Ausländer verfolgt. Steine fliegen.
Zwanzig Jahre später steht eine Wahl an in Kollwitz. Die Rechten machen ungestört Wahlkampf bei Schulklassen. Und die Geschichte der beiden toten Roma auf dem Feld – Marius Voinescu und Nicu Lacatus heißen sie in "Grenzfall" – wird wieder zu oberst gepflügt.
Marius’ Tochter nämlich – auf dem Weg vom sommerlichen Obstpflücken in Spanien nach Hause in die Walachei, was immer das für ein Zuhause ist – taucht fast auf den Tag genau zwanzig Jahre nach dem Mord in Kollwitz auf.
Wie die Roma wirklich sind
Ein Mann stirbt. Die Geschichte schwingt auf bis in den hinteren Teil Rumäniens. Ganz allmählich setzt sich das mehrdimensionale Porträt einer Landschaft, einer Volksgruppe, einer gesamteuropäischen Geisteshaltung zusammen.
Aber keine Angst. "Grenzfall" ist keine engagierte Literatur üblichen Typs, keine Heimatkriminalliteratur. Dazu ist Merle Kröger einfach zu talentiert.
Sie rast in hohem Tempo durch die Geschichte, kreuz und quer durch Europa. Aber sie hat ein geradezu unfassbares Geschick, Figuren, Situationen, Zusammenhänge auf kürzestes Distanz leichthändig tiefenscharf zu schraffieren. Die Figuren werden plastisch, auch wenn sie nur gestreift werden, die Lebensweisen, die Milieus.
Frei von jeder NGO-Romantik
Es mangelt nicht an Humor, an Ironie, auch und gerade dem Milieu der Romaversteher gegenüber. Es ist bemerkenswert frei von jeder NGO-Roma-Romantik. Es mangelt nicht an Haltung, aber entschieden an politischer Korrektheit.
So könnte es gewesen sein in Nadrensee, in der Juni-Nacht 1992. So ist es wohl in Mecklenburg-Vorpommern und Transsylvanien. So sind die Roma, so sind wir. Geht doch.