Merle Krögers neuer Roman „Grenzfall“
Die gesellschaftliche Realität des Verbrechens ist eine Grundkomponente des Krimigenres, die zuletzt immer mehr ins Hintertreffen geriet: In der Schwemme der Gebrauchs- und Befindlichkeitskrimis gerät das Eigentliche zur Nebensache, während Beiläufiges ins Zentrum rückt.
Um so erstaunlicher mutet ein Roman wie „Grenzfall“ an, in dem Merle Kröger kunstvoll und sprachgewandt von einem in doppeltem Sinn entlegenen realen Verbrechen erzählt: Anfang der 1990er Jahre starben an der deutsch-polnischen Grenze nahe Stettin zwei rumänische Männer, weil Jäger sie mit Wildschweinen verwechselten. Die Rumänen wollten illegal einreisen, ihre Familien wurden niemals informiert, die Jäger wurden nicht verurteilt.
Merle Kröger, die diesen Fall für den von ihr produzierten Dokumentarfilm „Revision“ recherchiert hat, bettet die Geschehnisse in eine exquisite Geschichte voller intelligenter Überraschungen ein. Sie spürt den Lebensgeschichten der Beteiligten nach und verdichtet sie zu Charakteren der Zeit, sie reichert den Kern des wahren Verbrechens mit einer packenden fiktionalen Komponente in der Gegenwart an, sie konstruiert zwingende Kontexte zum Figurenarsenal ihrer bisherigen Romane.
Zuletzt verbindet sich die Realität des Verbrechens mit der enormen Welthaltigkeit der Erzählung zu einem so radikalen wie reifen Genreroman, der zu einer fundamentalen Kritik der Verhältnisse anhebt. Ein veritables Meisterstück, in der Flut der normierten Neuerscheinungen des Krimimarktes ist „Grenzfall“ schlicht: herausragend.