Montag, 10. Dezember 2012
Die frühen 1990er Jahre waren in Deutschland geprägt durch fremdenfeindliche und rechtsextremistisch motivierte Ausschreitungen und Brandanschläge, bei denen viele Migranten und Asylbewerber ermordet wurden. Ortsnamen wie Hoyerswerda, Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen sowie die dazugehörigen Bilder – am bekanntesten wurde wohl das Foto des arbeitslosen Baumaschinisten Harald Ewert in Rostock-Lichtenhagen, der mit eingenässter Jogginghose seine Hand zum Hitlergruß hob – haben sich in das kollektive Gedächtnis eingegraben. 1992 standen vor allem die mehrtägigen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen und der Mordanschlag von Mölln im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Doch es gab 1992 zwei weitere Todesfälle in Mecklenburg-Vorpommern. An der deutsch-polnischen Grenze wurden zwei rumänische Roma von zwei Jägern erschossen. Vor Gericht gaben die Jäger an, die beiden Roma mit Wildschweinen verwechselt zu haben. Der Prozess endete 1999 mit einem Freispruch aus Mangel an Beweisen. Merle Kröger ist Filmemacherin und Autorin. Sie nahm sich dieses zweifelhaften „Jagdunfalls“ an und stellte unangenehme Fragen. Im September kam der Dokumentarfilm „REVISION“ ins Kino, der die Umstände rekonstruiert, die 1992 zum Tod der beiden Männer führten. Gemeinsam mit Regisseur Philip Scheffner hat Kröger das Drehbuch verfasst und den Film produziert.Parallel zu der Arbeit an der filmischen Revision dieses Falls hat Merle Kröger auch einen Krimi namens „Grenzfall“ geschrieben, der das Geschehen aus dem Jahr 1992 fiktionalisiert und in die Gegenwart verlängert. Adriana Voinescu, die Tochter des einen Opfers, kehrt 2012 nach Mecklenburg-Vorpommern zurück und sinnt auf Rache. Einer der beiden mutmaßlichen Todesschützen kommt ums Leben und Adriana in Untersuchungshaft. Die Berliner Anwältin Mattie Junghans, die man aus den ersten beiden Krimis von Kröger kennt, wird Adrianas Verteidigerin, beginnt ihre Ermittlungen und rollt auch den zwanzig Jahre alten Fall der erschossenen Roma wieder auf. Ihre Ermittlungen führen Mattie Junghans bis nach Rumänien, wo sie auch einen Bollywood-Star trifft (Kröger blickte in ihren ersten beiden Krimis hinter die Kulissen von Bollywood). Kröger betrachtet ihren aktuellen Roman „als politisch-gesellschaftliche Utopie“, sie würde sich wünschen, dass „wir tatsächlich in der Lage [wären], multiperspektivisch zu leben“, weil es dann „bestimmt weniger Zuschreibungen, Abgrenzungen, unglückliche Lieben, Profilierungszwang, Rassismus, Sexismus“ usw. gäbe (Merle Kröger in einem culturmag.de-Interview). Für Thekla Dannenberg ist Krögers Buch „vielleicht der beste deutsche Krimi des Jahres“ (perlentaucher.de). Dannenberg ist Mitglied der Jury der KrimiZeit-Bestenliste und „Grenzfall“ belegte Platz 1 der KrimiZEIT-Bestenliste im November 2012. Die Jury beurteilt das Buch wie folgt: „Mecklenburg-Vorpommern/Rumänien, 1992–2012. Wie Wildschweine erschossen beim Grenzwechsel: Marius und Nicu. Die Jäger freigesprochen. Marius’ Tochter Adriana kehrt zurück, um sie zu stellen. Kluge Kriminalerzählung zum Dokumentarfilm Revision. Empathisch scharfer Blick in europäische Angstzustände“.