Wenn es tatsächlich so etwas geben sollte, dann wäre Merle Krögers Grenzfall (Ariadne) der europäische Kriminalroman par excellence. Nicht nur weil das Buch in Deutschland, Polen, Rumänien und Frankreich spielt, sondern weil es Europa zum Thema hat, ohne dass dies groß erwähnt werden müsste. »Grenzfall« beginnt 1992, als die Welt kurz nach dem Kollaps des "Ostblocks" sich änderte und die Grenze zu Polen noch nicht offen war, als Asylantenheime brannten, als im Jubel über die neuen Freiheiten schon die "Festung Europa" zumindest gedanklich keimte. Da werden beim illegalen Grenzübertritt von Polen nach Mecklenburg-Vorpommern zwei Roma aus Rumänien von besoffenen Jägern für Wildschweine gehalten und abgeknallt. So sieht es zumindest aus, wenn nicht im Zuge der verpfuschten, behinderten, sabotierten und irgendwo im schlimmen Niemandsland von Indolenz, Inkompetenz und heimlicher Sympathie für die Täter versumpften Ermittlungen sich nicht ganz andere Lesarten anbieten würden. »Revision«, ein von Merle Kröger produzierter und mit-geschriebener Dokumentarfilm von Philip Scheffner (sicher einer der intelligentesten und brillantesten Dokumentarfilme seit langer Zeit) rekonstruiert den "Fall", soweit sich die Geschehnisse einer solchen Rekonstruktion erschließen, in dem wesentlich die Perspektiven der Familien der Opfer auf einen Tatbestand mitgedacht werden, die von den deutschen Behörden nie informiert worden waren. Diese filmische Rekonstruktion ist eine Möglichkeit, sich dem Thema anzunähern. Der Roman von Merle Kröger fiktionalisiert das Drama, als andere narrative Möglichkeit. So entsteht ein doppeltes Meisterwerk - nicht-fiktionaler Film und Crime Fiction machen aus einem ungeheuerlichen Kriminalfall eine europäische Bestandsaufnahme über das Eigene und das vorgeblich Fremde. Grandios.
Kaliber 38
Grenzfall
Thomas Woertche