Mord und Totschlag nach der Wende. Merle Kröger bekommt für diesen Roman den Deutschen Krimipreis
Sommer 1992 – der Fall der Mauer liegt erst wenige Jahre zurück. Nach innen öffnen sich die Grenzen, nach außen schottet man sich ab. Es ist die Zeit, da der Volkszorn sich gegen Flüchtlinge richtet und Asylbewerberheime brennen. In der fiktiven Hansestadt Kollwitz, die im realen Mecklenburg-Vorpommern angesiedelt ist, kommt es zu Ausschreitungen gegen zugewanderte Roma, „rumänische Scheinasylantenzigeuner“, wie sie genannt werden.
Als zwei Roma-Flüchtlinge eines Nachts versuchen, illegal von Polen über die grüne Grenze nach Deutschland zu kommen, werden sie erschossen. Zwei angetrunkene Hobbyjäger haben die beiden mit Wildschweinen verwechselt. Vor Gericht werden sie vier Jahre später nach reichlich schlampigen Ermittlungen freigesprochen.
Das ist die auf realen Begebenheiten beruhende Vorgeschichte, die Merle Krögers Roman „Grenzfall“ auf den ersten knapp hundert Seiten erzählt. In kurzen Kapiteln beleuchtet sie schlaglichtartig diese Zeit des Umbruchs. Ossis und Wessis begegnen einander mit Misstrauen, die Vorurteile sitzen fest: Die Westler sind zigarrepaffende Kapitalisten, die mit der Brieftasche beweisen müssen, dass sie die Größten sind. Die Ostler in ihren putzigen Trabbis waren bei der Stasi und kriegen alles in den falschen Hals. Auf wunderbar komische Weise und ohne Rücksicht auf politische Korrektheit schildert Kröger das Klima im Nachwendedeutschland – und den Frust, der sich an den Fremden entlädt.
20 Jahre später – inzwischen schreiben wir das Jahr 2012 – wird der Fall der beiden erschossenen Roma wieder aufgedröselt. Schuld daran ist Mattie Junghans, die Frau ohne festen Lebensentwurf, die im Wohnbus von Stadt zu Stadt zieht. In Berlin hat sie einen neuen Job als Assistentin eines Kreuzberger Menschrechtsanwalts gefunden. Von ihrem Nachbarn im Treptower Wohnmobil-Park, dem Roma Liviu, erfährt sie von der alten Geschichte. Und von Adriana, der Tochter eines der Opfer, die offenbar in einem Akt von Selbstjustiz Rache an einem der beiden Täter genommen hat. Jedenfalls wird der Frau der Mord an dem Jäger zur Last gelegt. Aber ist sie wirklich die Täterin?
Schon steckt Mattie, die burschikose Norddeutsche mit indischen Wurzeln, mittendrin in neuen Ermittlungen. Zusammen mit Liviu reist sie quer durch Europa nach Transsilvanien, in die Heimat der Familie, wo Armut und Diskriminierung herrschen. Keine Straßen, kein Licht, kein Abwasser. Und Menschen, denen nichts anderes übrig bleibt als zu klauen, weil sowieso alle Welt erwartet, dass sie Diebe sind. Oder Musik machen und Autofensterscheiben putzen.
Merle Kröger zeigt diese Welt, ohne sie je zu romantisieren. Die 1967 in Plön geborene Autorin, die jüngst einen Dokumentarfilm zu dem Roma-Mord drehte, hat gründlich im Herkunftsort der Opfer recherchiert. Auch die Atmosphäre in der vorpommerschen Provinz, wo die brav gescheitelten NPD-Wahlkämpfer selbstverständlich auf dem Marktplatz fremdenfeindliche Propaganda betreiben, schildert sie realistisch.
Mit harten Schnitten wechselt das Buch zwischen diesen Schauplätzen und zeigt nebenbei, welche Abgründe diese trennen. Merle Krögers zwischen Realität und Fiktion changierender Krimi erfindet keine monströsen Welten oder blutigen Morde. Er erzählt vom Hier und Jetzt, vom alltäglichen Schrecken mitten in unserer Gesellschaft, mitten in Europa. Engagiert, aber frei von jedem Betroffenheitsduktus. Und spannend bis zur letzten Seite.