Merle Kröger hat mit „Grenzfall“ (Argument 2012) einen der besten deutschsprachigen Kriminalromane des letzten Jahres geschrieben. Dass die Geschichte, die sie darin erzählt, nicht völlig frei erfunden ist, kann überprüfen, wer sich den parallel zum Buch entstandenen Dokumentarfilm „Revision“ ( zusammen mit Philip Scheffner, 2012) anschaut. Arbeitet dieser einen tatsächlichen Fall aus dem Jahr 1992 auf, nimmt sich das Buch die Freiheit,das damals Geschehene mit Fiktivem anzureichern und es fortzuführen bis in unsere Gegenwart. Denn der Tod zweier Roma, die bei ihrem illegalen Übertritt über die polnisch-deutsche Grenze von Hobby-Jägern für Wild gehalten und erschossen wurden, ist bis heute nicht gesühnt.
Der Roman gibt den Opfern ein persönliches Profil und holt sie und ihr tragisches Schicksal damit ganz nahe an den Leser heran. Was vor 20 Jahren in einer aufgeheizten Atmosphäre von Fremdenfeindlichkeit geschah, so begreift man außerdem, ist in einem Europa der offenen Grenzen durchaus nicht ausgeschlossen. Denn wenn Merle Kröger ihre bereits aus zwei Romanen bekannte Heldin Mattie Junghans und die junge Adriana Voinescu, Tochter eines der beiden 1992 ums Leben gekommenen Rumänen, zwanzig Jahre nach dem schockierenden Vorfall auf die Spuren der Täter von damals setzt, stehen den mutigen Frauen nur allzubald wieder Kräfte gegenüber, die aus der Vergangenheit nichts gelernt haben.
„Grenzfall“ ist ein europäischer Roman im besten wie im empörendsten Sinne. Er führt uns zusammen mit seinen Helden bis in die letzten Winkel eines Kontinents, der eifrig damit beschäftigt ist, sich neu zu erfinden, dabei aber wieder jene vergisst, die schon immer leer ausgingen und in Armut und Erniedrigung zu leben hatten.
Moment-Magazin
Alles Krimi oder was?
Kolumne von Dietmar Jacobsen