Ganz der Realität verpflichtet ist auch Merle Krögers neuer hervorragender Roman »Grenzfall«: Im Juni 1992 werden an der deutsch-polnischen Grenze zwei Männer er- schossen. Ein bedauer- licher Jagdunfall? Warum brennt dann kurz darauf das Feld, wo dies ge- schah? Warum werden die genauen Umstände vertuscht? Warum ge- hen die Schützen voll- ständig straffrei aus? Und warum unterrichtet niemand die Familien der Toten? Eine der Figuren sagt dazu: »Wären die Opfer Deutsche gewe- sen und nicht Roma, wäre alles ganz anders gelaufen.« 1992, kurz nach der Wiederver- einigung. Das ist das Jahr, in dem die Asyldebatte in den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen gipfelte, als die Wohnheime von Asyl- bewerbern unter dem Gejohle des Mobs von Rechtsradikalen in Brand gesteckt wurden.
Merle Kröger greift in »Grenzfall« einen tatsächlichen Fall aus dem Jahr 1992 auf, und sie zieht die Fäden bis in die Gegenwart. Die Autorin belässt es nicht dabei, nach Ursachen in einzelnen Menschen oder in der ostdeutschen Provinz zu suchen, sondern beleuchtet nationale wie europäische Bedingungen, die Lebensverhältnisse der Roma in Europa, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise wie auch die Gewaltbereitschaft des Einzelnen und die Angst vor dem Fremden, die von rechtsradikalen Parteien aus Machtkalkül instrumentalisiert wird. Auf diese Weise gelingt ein Ineinander von großen Strukturen und persönlichen Denkweisen. Große Realitätsnähe, hohe analytische Kraft, gesellschaftliche Relevanz und gleichzeitig eine lebendige Darstellung – das ist Kriminalliteratur, wie sie sein soll.
Mord und Buch
Untiefen – nicht nur in der Provinz
Kirsten Reimers