Der Morgen dämmert. Die Sonne geht auf. Die Gerste bewegt sich im Wind. Niemand kommt, um dem Schwerverletzten zu helfen. Der Mann neben ihm hat das Sterben schon hinter sich. Merle Kröger verdichtet in „Grenzfall“ meisterlich einen wahren Fall zu einem dichten Politthriller.
Die Autorin, die hier ihren dritten Krimi mit der rastlosen Heldin Mattie Junghans vorlegt, ist von Haus aus eigentlich Filmemacherin. Bei den Recherchen für den Dokumentarstreifen „Revision“ – dieses Jahr auf der Berlinale uraufgeführt – ist sie auf den Fall gestoßen. In dem Film erzählt Regisseur Philip Scheffner eine Geschichte, die einem auch 20 Jahre später noch Gänsehaut über den Rücken jagt.
Rückblende: Wir schreiben das Jahr 1992, genauer gesagt handelt es sich um die Nacht vom 28. auf den 29. Juni. Zwei Männer wollen von Polen aus über die grüne Grenze ins gelobte Deutschland fliehen und laufen dabei zwei Jägern vor die Flinte. Vor Gericht sagen die Schützen später aus, sie hätten die beiden mit Wildschweinen verwechselt. Sie werden freigesprochen.
Die beiden Toten auf dem Feld heißen Grigore Velcu und Eduache Caldear. Sie kamen aus Rumänien, waren Roma. Im Roman verwandeln sie sich in Marius Voinescu und Nicu Lãcãtus. Schon die veränderten Namen – auch Kollwitz, die Grenzstadt in Mecklenburg-Vorpommern, ist erfunden – zeigen, dass Merle Kröger zwar einen realen Fall aufgreift, sich aber der Fiktion bedient, um Leerstellen zu füllen.
Wechsel der Perspektive
Nahaufnahme: „Er fühlte, wie das Getreide ihm durch die Hose in die Haut stach. Vorsichtig ließ er die Hand beim Gehen durch die Halme streifen. Gerste könnte es sein. Es war jetzt so hell, dass er die Gesichter der Leute, die neben ihm liefen, sehen konnte.“ Kurz darauf stirbt der Mann.
Die Autorin, 1967 in Plön geboren, setzt auf unendlich viele Perspektivwechsel und deckt so die Vorgeschichte der Opfer und ihrer Mörder auf. Da sind der „Bilderbuch-Kapitalist“ Hajo Walther, der mit seiner Brieftasche beweisen muss, dass er der Größte ist, und der ehemalige Dorfpolizist Uwe Jahn, der nach der Wende so recht kein Bein mehr auf den Boden gekriegt hat. Und da ist Marius Voinescu, der seine Mutter, die bei einem Überfall aufs Ausländerheim an einem Herzinfarkt starb, nach Rumänien überführen will. Doch als Asylbewerber darf er das Land eigentlich nicht verlassen. Und Nicu Lãcãtus, der seinen Job in der Metallfabrik in Brasov verloren hat, hofft im Westen Arbeit zu finden.
In knappen Kapiteln geht es von einem Schauplatz zum nächsten. Harte Schnitte am laufenden Band, ein kurzer Aufenthalt hier, ein flüchtiges Verweilen dort. Bei diesem Roadmovie fliegen die Orte nur so vorbei, Turnu Severin in der Walachei etwa, „die Stadt der halb fertigen Paläste und zerfallenen Träume“. Die Leser sitzen mit der Halb-Inderin Matti Jungshans, die als Assistentin eines Menschenrechtsanwalts unterwegs ist, in ihrem roten Bus oder im Zug. Sie fahren über die Karpaten, „vorbei an gigantomanischen Industrieruinen und bunt gestrichenen Häusern“. Und besuchen natürlich Mecklenburg-Vorpommern, wo die beiden Roma starben und wo kurz darauf in Rostock-Lichtenhagen die Wohnheime für vietnamesische Vertragsarbeiter brannten. Sie machen Station in Frankfurt, Berlin, Spanien, Polen und Transsylvanien und, und, und.
Selbst bei der klitzekleinsten Szene, nur eine halbe Seite lang, gelingt Merle Kröger das Kunststück, Tiefenschärfe herzustellen. Mit wenigen Strichen zeichnet sie Milieus und Charaktere so plastisch, dass man meint, den Personen leibhaftig in ihrer guten Stube oder in der todschicken Kanzlei begegnet zu sein. Sie gibt sowohl den Opfern als auch den Tätern und Mitläufern ein Gesicht, zieht den Bogen von der Vergangenheit bis zur Gegenwart, wo die NPD ungestört Wahlkampf bei Schulklassen macht.
Doch 20 Jahre nach dem Verbrechen, an das sich in Kollwitz und Umgebung niemand erinnern will, ist auf einmal die Ruhe in Meckpomm und anderswo dahin. Denn Adriana, die Tochter eines der Toten, kehrt zurück an den Ort des Schreckens. Und einer der beiden Schützen von damals stirbt. Aus vielen einzelnen Puzzleteilen setzt sich allmählich das vollständige Bild zusammen. Die Totale verdichtet in diesem „Melodram ohne Geschwätzigkeit“, so Merle Kröger, den konkreten Fall zu einem Sittenbild der deutschen Gesellschaft – vielleicht gerade, weil sich die Autorin den gängigen Mustern des Genres verweigert. Ihre Heldin Mattie Junghans stellt Fragen, reicht die möglichen Antworten aber an die Leser weiter.
Abspann: Heute wären die Toten Bürger der EU, könnten ohne weiteres ausreisen. Zwar wurde in Berlin im Oktober das Denkmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma eingeweiht, doch ihre Nachkommen sind in diesem Land immer noch nicht willkommen.
Nordseezeitung
Abgeknallt wie Wild
Anne Stürzer