perlentaucher

Komposition für dreizehn Windräder
Thekla Dannenberg

(...) Merle Krögers Krimi "Grenzfall" weist einige frappierende Ähnlichkeiten zu Roberto Costantinis Thrillers auf: Auch in "Grenzfall" verlangt ein ungelöster Mord nach zwanzig Jahren sein Recht, auch hier rauscht im Hintergrund stets die Fußball-Übertragung, und vor allem bildet auch hier Europas Umgang mit den Roma die trübe Folie, auf der sich das Verbrechen abspielt. Doch auch wenn in Italiens Hauptstadt genauso Jagd auf Roma gemacht wird wie in der mecklenburgischen Provinz, liegen doch literarische Welten zwischen Rom und Kollwitz. Krögers Geschichte von den Rändern der europäischen Gesellschaft ist bei weitem nicht so hochgepumpt wie Costantinis Thriller aus der Mitte der Macht, sondern intelligent gestrickt, mit viel Witz erzählt, und viel näher am Leben als an den Techniken der Bestseller-Produktion. Der Spott, mit dem Kröger die verschiedenen Milieus belegt, ist nicht immer milde, aber er entspringt immer der klugen und aufmerksamen Beobachtung. "Grenzfall" ist vielleicht der beste deutsche Krimi des Jahres.

Die Geschichte beginnt im Frühsommer 1992, zu Beginn jener finsteren Zeit, als der Mob gegen die Zuwanderung tobte, Flüchtlingsunterkünfte und türkische Wohnhäuser in Brand steckte und schließlich erreichte, dass das Asylrecht abgeschafft wurde. Auch im fiktiven Kollwitz-Fichtenberg staut sich der Volksfrust gegen das Asylbewerberheim und die dort einquartierten Roma. Eines Nachts werden in einem Gerstenfeld zwei Flüchtlinge erschossen, Marius Voinescu und Nicu Lacatus. Hobby-Jäger haben die Flüchtlinge offenbar für Wild gehalten, nach einem vierjährigen Prozess werden sie nicht einmal der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden. Kröger lässt dieses Verfahren böse als "Wildschwein-Prozess" firmieren.

Zwanzig Jahre später kehrt Adriana Voinescu, die Tochter des einen Opfers, nach Kollwitz zurück. Mittlerweile randaliert hier nicht mehr der versoffene Pöbel, die akkurat gescheitelten Kader der NPD haben die Regie übernommen und fahren eine smartere Strategie. Andererseits dürfen rumänische Roma nun ganz legal nach Deutschland (haben dem Vernehmen nach aber bisher nicht Vorpommern überrannt). Adriana spürt einen der beiden Täter auf, mit Messer im Stiefel und durchaus destruktivem Impuls, aber noch unentschieden, ob sie Rache oder Wiedergutmachung will. Aber wie auch ihr Vater gerät sie zur falschen Zeit an den falschen Ort. Der Sturz des Jägers aus dem achten Stock wird ihr angelastet.

Über ihren rumänischen Wohnwagen-Nachbarn am Treptower Park kommt schließlich Mattie Junghans ins Spiel, die Frau mit ohne festen Wohnsitz und soliden Lebensentwurf (während andere ihren schon dreimal geändert haben!). Gerade angedockt an eine Kanzlei Kreuzberger Anwälte, übernimmt sie die Nachforschungen, im Schlepptau einen Zwergspitz, ihren emotional und sexuell ambivalenten Ex-Freund Nick und die Tochter des zweiten Opfers, die junge Nadina Lacatus (Devise: "Bloß nicht heulen vor den Weißen!"). Dass ausgerechnet die wohlmeinende Pastorin von Kollwitz zu Matties Widersacherin wird, gehört zu den vielen klugen Wendungen, die diese Geschichte nimmt.

Merle Kröger, die Spezialistin für Bollywood und bedrängte Minderheiten, schickt ihre rastlose Heldin quer durch das globale Dorf Europa: Über Kollwitz in die Walachei und weiter nach Transsilvanien: Solange der Akku reicht, trällern aus dem Laptop indische Megastars, doch dann ist Schluss mit der multikulturellen Ausgelassenheit. Im Roma-Viertel von Brasov gibt es keinen Strom, und die kleine Schwester kann die Schule vergessen, sie muss nach Südfrankreich, als Dienstmädchen in Schuldknechtschaft, ihre Brüder brauchen Geld. Autoscheiben putzen in Berlin oder Tomaten pflücken in Spanien bringt nicht so viel. Roma reisen durch ein sehr trauriges Europa.

In einer wunderbaren Szene ersinnt Kröger sich die Art von Trost, die Mecklenburg-Vorpommern zu bieten hat. Dann steht Nick in dem Gerstenfeld unter einem Windrad, das alle paar Minuten mit brachialen Lärmdetonationen zum Stehen kommt. "Eine Sinfonie aus Klängen. Stell Dir vor, man könnte das steuern. Komposition für dreizehn Windräder. Ein Requiem für Marius Voinescu und Niculai Lacatus."