Artinfo (2012)

Merle Kröger und Philip Scheffner über zwei mögliche Geschichten: ihren Film „Revision“ und den Kriminalroman „Grenzfall“
Ines Meier

Veröffentlicht am: 10 Oktober 2012

Am 29. Juni 1992 wurden morgens um 3.45 Uhr auf einem Getreidefeld in Mecklenburg-Vorpommern zwei Männer erschossen. Zwei deutsche Jäger hielten die beiden rumänischen Roma, die in einer Gruppe illegal die deutsch-polnische Grenze überquerten, angeblich für Wildschweine. Der Prozess gegen die Jäger begann 1996, über einen Zeitraum von sieben Jahren gab es drei Verhandlungstage. Die Angehörigen wurden über den Prozess nicht informiert und nie angehört, die wegen fahrlässiger Tötung Angeklagten wurden freigesprochen.

Der Regisseur Philip Scheffner („Der Tag des Spatzen“, „Halfmoon Files“) und die Filmemacherin und Autorin Merle Kröger („Kyai!“, „Cut!“), die 2001 gemeinsam die Produktionsplattform pong gründeten, haben die Fäden dieser Nachricht mit dem Dokumentarfilm „Revision“ und dem Kriminalroman „Grenzfall“ wieder aufgenommen und zurückverfolgt. Das Ergebnis sind zwei mögliche Geschichten und ein erreichtes Ziel: Grigore Velcu und Eudache Calderar ihren Platz in der Geschichte wiederzugeben. Sucht man die Namen jetzt im Internet, bekommt man 18.000 Hits. Vor ein paar Jahren war es kein einziger. Ines Meier von ARTINFO traf Philip Scheffner und Merle Kröger und sprach mit ihnen über das Verhältnis von Film und Buch, das Zuhören und, ja: über Windräder.

Wann fing für Euch die Geschichte an?

Philip Scheffner: Ich glaube, die Geschichte fing für uns 1996 an, vier Jahre nachdem die Schüsse auf dem Kornfeld abgegeben wurden. Merle und ich haben für einen anderen Film recherchiert und waren mit Helmut Dietrich vom Forschungszentrum Flucht und Migration zusammen. Einerseits hat er uns diese Auffindsituation geschildert, so wie sie in dem Film ganz am Anfang beschrieben ist – dass zwei Mähdrescherfahrer auf ein Feld fahren, es ist ein schöner Tag, heiß, und dann sehen sie zwei Körper, drehen sich um und auf einmal fängt das Feld an zu brennen. Ein sehr klassisches, filmisches Bild und gleichzeitig ein klassischer Krimianfang. Das andere, was er erzählt hat, waren die Namen: Grigore Velcu und Eudache Calderar. Das war besonders, weil die zu dem Zeitpunkt in der Presse kaum aufgetaucht sind. Diese beiden Infos hatten wir im Kopf und die haben uns nicht losgelassen.

Merle Kröger: Eigentlich fängt die Geschichte dann nochmal an, nach der Premiere auf der Berlinale von „Der Tag des Spatzen“ – wir haben überlegt, wie wir weitermachen und hatten das Gefühl, dass wir seit über zehn Jahren diese beiden Namen mit uns rumtragen und denen immer noch eine Geschichte schuldig sind. Wir dachten, jetzt haben wir vielleicht die Möglichkeit, ein Recherchestipendium zu bekommen und daraus einen Film und ein Buch zu machen – das war von Anfang an die Idee. Wir haben versucht das gleichzeitig anzugehen, das geht aber nicht so richtig, weil es unterschiedliche Dramaturgien sind. Wir haben die Filmrecherche gemacht, ich hab immer gesammelt und der Krimi ist nach dem Film entstanden. Wenn man sagen könnte bei einem Buch gibt es Buch und Regie, dann wären wir auch da Koautoren und die Regie wäre dann in dem Fall meine.

PS: Der Krimi ist ja eine ganz fiktionalisierte Form – das einzig direkt Dokumentarische, was mit diesem Fall zu tun hat, ist die Auffindsituation. Es sind andere Personen, die haben andere Namen, da spielen sich andere Konflikte ab – aber trotzdem wäre das eine der möglichen Geschichten.

MK: Und der Dokumentarfilm ist auch nur eine Möglichkeit.

PS: Insofern spielt das Fiktionale und das Dokumentarische ineinander, gleichzeitig sind in dem Kriminalroman viele Sachen, die uns während der Recherche passiert sind: Figuren, Situationen, Gespräche, aus denen eine fiktionalisierte Geschichte wird. Es gibt viele Überschneidungen, aber es ist was total anderes. Es ist auch nicht das Buch zum Film.

Die Figuren des Films überlagern sich zwar teilweise mit denen vom Buch, aber nicht deckungsgleich, sondern sozusagen versetzt. Es gibt Beschreibungen von Details, die man wiedererkennt, die führen zurück zum Film und wieder weg davon...

MK: Das ist natürlich ein bisschen die Idee. Was mir auch wichtig war: Es gibt außer den beiden Ehefrauen eine sehr stark männerdominierte Sprechweise im Film. Die ganze Filmsache spielte sich oft zwischen Männern ab. Dadurch, dass ich selber eine Frau bin, habe ich mit den Frauen viel gesessen und nicht geredet, weil ich nicht rumänisch kann. Wir haben Tage zusammen verbracht, uns angekuckt und miteinander Sonnenblumenkerne gegessen, Cola getrunken und die Kinder abwechselnd auf den Arm genommen. Dadurch ist eine Form von Nähe entstanden, die ich gerne in diesen Krimi mit einbringen wollte. Einige der weiblichen Figuren hatten eine unglaubliche Stärke in der Geschichte, die sich aber in dem Film nicht richtig entfalten kann oder darf. Irgendwie dachte ich immer, wenn es in dem Buch auch um Rache geht, um die es ja im Film nicht geht, dann möchte ich das gerne mit weiblichen Figuren zeigen.

PS: In dem Buch gibt es auch eine direktere Rückbindung an unser Leben. Diese Rückbindung an Grundfragen hat der Film nicht, weil er eine ganz andere Fragestellung hat – Fragen jenseits der politischen Ebene, Fragen von wie organisiert man sein Leben, wie organisieren die ihr Leben. Dass man das immer reflektiert mit dem eigenen, das kann ein Buch.

Sowohl im Film als auch im Buch geht es viel um Perspektiven und Perspektivverschiebungen. Was im Buch stärker hervorkommt, ist der Gedanke, dass bis vor der Wende die DDR-Bürger genauso über die Grüne Grenze geflohen sind, auch auf der Suche nach einer besseren Zukunft. Kurze Zeit später haben die komplett das Verständnis dafür verloren, dass Menschen Grenzen unter solchen Gefahren überqueren, weil sich die Machtverhältnisse so schnell geändert haben.

MK: Das ist was, was Film und Buch verbindet, aber wo das Buch andere Möglichkeiten gibt, diese Zeit 1992 noch einmal hochzuholen. Diese ganzen Ereignisse sind ja keine isolierten Ereignisse, sondern haben in einem gesellschaftspolitischen Kontext stattgefunden. Wir haben in dem Dorf, wo das passiert ist, fast zwei Jahre verbracht, uns mit unglaublich vielen Leuten unterhalten, auch viel über die Zeit. Für die war immer wichtig, dass die Jäger nicht zwei Westler oder zwei Ostler waren, sondern eine gemischte Gruppe. Da hab ich gedacht, ich mach daraus Antagonisten. Was passiert, wenn zwei Leute aus einer ähnlichen Generation – aber der eine ist im Osten aufgewachsen und der andere im Westen – aufeinandertreffen? Was für Machtkonstellationen gibt es? Das ist ein Spiel mit Möglichkeiten, das hat nichts mit realen, dokumentarischen Dingen zu tun.

Wie war der Rechercheprozess?

PS: Das war ein Grund, warum es so lange gedauert hat, bis wir uns damit beschäftigt haben, dass wir Angst hatten, die Recherche wird wahnsinnig groß. Und dann die Überraschung, dass die Recherche eben gar nicht schwierig war, weil die eine Familie exakt an der gleichen Adresse lebt, seit über 30 Jahren. Bei Familie Calderar war es schwieriger, weil die aufgrund des Todes des Vaters oder des Ehemanns von der sozialen Leiter völlig abgestürzt sind und zwischendurch obdachlos waren. Es war generell so, dass sich die Leute alle, auch in Deutschland, an diesen Fall erinnert haben, das hat uns überrascht. Es gab eine große Bereitschaft darüber zu reden, bis auf wenige Ausnahmen – die Täter, ein Rettungssanitäter, ein Richter und vor allem der damals aktive Staatsanwalt.

Haben die Gründe genannt?

MK: Das haben wir im Buch versucht zu schildern, diese zweite Ebene war ziemlich aktiv.

PS: Wovor haben die Angst? Es gibt ja konkret eigentlich nichts, wovor man Angst haben müsste, trotzdem war die da, es war mehr eine Atmosphäre, als dass man die konkret hätte festmachen können.

Im Buch wird das zurückgeführt auf die Macht, die die NPD dort inzwischen gewonnen hat.

MK: Das ist darin begründet, dass uns Leute – also die darüber sprechen und das sind nicht viele – dort gesagt haben, dass sie angekommen sind, in der Mitte der Gesellschaft. Das ist ein Originalzitat, was uns wirklich schockiert hat. Das sind Leute, die gehen einkaufen für die Omas...

PS: ...und sind bei der freiwilligen Feuerwehr.

MK: Die sind so wichtig und es ist schwierig Leute zu finden, weil die Idee der Solidargemeinschaft so nicht mehr existiert. Im Osten ist es noch schwieriger, weil es kaum junge Leute gibt und die, die dann kommen, sind oft von der NPD.

PS: Die werden gezielt eingesetzt, setzen sich in der Jugendfeuerwehr fest und haben dann eine Rolle, nach außen und im Dorfgefüge. Es ist schwer da gegenzusteuern, wenn du keine anderen Leute hast. Von solchen Sachen ist viel in das Buch eingeflossen.

Ich fand die filmischen Mittel, die Ihr benutzt, um die verschiedenen Perspektiven deutlich zu machen, spannend. Wie sie ihre eigenen Tonbandaufnahmen hören und die Momente, in denen Ihr quasi das Filmische offenlegt. Wenn Du selber im Bild bist, aber auch bei der versuchten Rekonstruktion der Lichtverhältnisse der Nacht, in der die Männer erschossen wurden. Da wird der Kameramann direkt angesprochen und Du klatscht vor der Kamera in die Hände, damit Ihr den Ton anlegen könnt. Und dann natürlich die Frage: Wo fängt für Euch denn eigentlich die Geschichte an, die ständig wiederholt wird. Wie habt Ihr das entwickelt?

PS: Ein Eindruck aus allen Gesprächen war, dass die Momente am aussagekräftigsten waren, in denen die Leute nachdenklich waren. Eigentlich ist das ein stiller Film und trotzdem müssen die Leute ja sprechen. Es gibt viele Gründe für dieses Zuhören – die Beschäftigung mit Zeugenschaft, wir haben es ja mit einem Gerichtsverfahren zu tun, gleichzeitig ist Zeugenschaft ein Grundproblem im Dokumentarfilm. Der wichtigste Punkt ist, dass es für diese Geschichte und die verschiedenen Perspektiven auf diese Geschichte nie einen Raum gegeben hat – in der Berichterstattung nicht, im Gericht nicht, in der Gesellschaft nicht. Was soll ein Film machen, der da ansetzt, wo ein juristisches Verfahren abgeschlossen und gescheitert ist?  Worum es gehen könnte, wäre eben, so einen Raum herzustellen. Wenn eine Person spricht und sich danach zuhört, ist die Stimme nicht mehr direkt gerichtet, sondern verteilt sich im Raum. Wir tun als Filmteam exakt das Gleiche, was die Person tut, die zu sehen ist: Wir sitzen in einem Raum, hören zu und teilen den Raum. Wir hatten die Vorstellung, das könnte sich in den Kinoraum fortsetzen. Denn die Zuschauer tun ja nichts anderes. Wenn man Kino auch als gesellschaftlichen Raum versteht, als politischen Raum, dann wäre es vielleicht genau das. Dass durch diese Personen, die sich selber zuhören, so ein Raum entsteht.

MK: Physische Präsenz kommt in so einem Raum viel stärker zur Geltung, weil der Körper, der zuhört, fühlbarer wird.

Was ich auch interessant fand, war das Verhältnis von Fotografie zu der Geschichte. Es gibt im Film diesen Moment, wo sie anfangen Familienbilder in die Kamera zu halten. Und den, wo der Sohn die Mutter unterbricht, als sie Bilder ihres Mannes zeigen will, wie er verbrannt im Sarg liegt. Und sagt, zeig erst die Fotos, auf denen er noch lebt. Dass sie überhaupt den Sarg geöffnet und diese Bilder gemacht hat.

MK: Für uns waren Fotos viel wichtiger als man das jetzt im Film sieht. Wir hatten von Anfang an das Gefühl, dass Fotos eine wichtige Rolle spielen, weil sie auch das einzige sind, was die haben.

Die Tochter sagt ja zum Schluss: „Wir haben keine Erinnerungen, wir haben nur Fotos“...

MK: Die einen haben das Haus, die anderen eigentlich wirklich nur diese Fotos. Wir hatten bei allen Drehs eine Fotografin dabei. Was sie auch machen musste, weil alle drauf bestanden haben, waren Familienfotos. Wir wurden zu Überbringern von Fotos, von der einen Begegnung zu der anderen. Diese Fotogeschichte wurde als soziales Moment total wichtig und hat damit fortgesetzt, was in der Geschichte selber schon drinsteckt.

PS: Wir haben auch nur Fotos, wir haben die beiden Männer nie kennengelernt, die gestorben sind. Diese merkwürdige Distanz von der Tochter, die ihren Vater nie richtig kennengelernt hat, und uns – da trifft sich was, das hat eine Ebene des Sprechens ermöglicht.

Ein Element, das im Film und im Buch wichtig ist, sind die Windräder. Im Film sind sie ein offenes Bild und werden immer neu konnotiert – sie sind eine Guillotine, dann werden sie zu Rädern der Bürokratie, die langsam auslaufen. In dem Buch nimmt Nick die Geräusche der Windräder auf und schickt Mattie das Band mit diesem Requiem, in dem sie quasi zu Grabhütern werden.

PS: Ich weiß nicht mehr, ob ich mir in meiner Erinnerung die Szene so ausgedacht habe oder ob sie wirklich so war, aber ich sehe uns beide da stehen und sagen, eigentlich müsste da doch ein Gedenkstein hin, es muss doch irgendetwas erinnern, da sind Leute gestorben. Da war natürlich keiner und ich sehe immer, wie wir auf dieses Feld kucken, dann kucken wir hoch und da sind diese Windräder und dann kucken wir uns beide an und sagen, aber es gibt ja schon Denkmäler. Jedes Windrad erinnert dich irgendwann daran, die stehen in ganz Europa. Und werden vom Wind, der einfach über die Grenzen drüber geht, angetrieben.

„Revision“ (D 2012, 106 Min., Buch: Merle Kröger, Philip Scheffner, Regie: Philip Scheffner, Kamera: Bernd Meiners) ist seit dem 13. September deutschlandweit in den Kinos. Am 11. Oktober läuft er im Arsenal in Berlin, in Anwesenheit von Philip Scheffner und mit anschließender Podiumsdiskussion. Die Premierenlesung von „Grenzfall“ findet am 21. Oktober in der Filmpalette in Köln statt, in der Veranstaltung wird auch „Revision“ gezeigt. Weitere Termine auf der Website. Der Kriminalroman „Grenzfall“ von Merle Kröger ist beim Ariadne Verlag erschienen und im Buchhandel erhältlich.