Die Welt, 09.05.2015

Jeder Mensch hat ein Gesicht
Elmar Krekeler

Wimmelbild der Migration: Die Filmemacherin Merle Kröger hat einen Doku-Krimi über die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer geschrieben. Eine Begegnung

Die Welt kann ja ein durchaus kuscheliger Ort sein. Jedenfalls gibt sie sich gerade ziemlich Mühe, so zu tun, als wäre sie einer. Die Vögel zwitschern, die Sonne scheint, der Wind rauscht sacht durchs Grün über uns. Irgendwer spielt gerade Klavier. Könnte so bleiben. Tut es aber nicht.

Wir sind ja schließlich nicht zu unserem Vergnügen hier, jedenfalls nicht ausschließlich. Wir sind hier wegen eines Massengrabes und einer Geschichte von vier Schiffen, die auf ihm herumfahren, sich begegnen, sich treffen. Wegen eines fast schon mythischen Moments, in dem die Gegenwart – vor der wir uns gerade kaum wegducken können, von deren Bildern wir geradezu bombardiert, zu einer Haltung gezwungen werden – gefriert.

Merle Kröger, Filmemacherin, Dramaturgin, Kriminalschriftstellerin, 1967 im norddeutschen Plön in eine typische Großfamilie geboren, hat sie aufgeschrieben, diese Geschichte der vier Schiffe und die Geschichten von gut einem Dutzend Menschen, die mit ihnen fahren und flüchten, die auf ihnen arbeiten, sich erinnern, mit sich ringen, Haltung gewinnen, die mit ihnen an den ausfransenden Enden Europas stranden, die auf dem Weg zu ihnen zugrunde gehen.

"Havarie" heißt das Buch, es erscheint in der Krimi-Reihe des Argument-Verlags, es sterben auch Menschen während der gut 48 Stunden, von denen es handelt, es aber tatsächlich einen Kriminalroman zu nennen, bedarf eines ziemlich erweiterten Genrebegriffs. Merle Kröger selbst, für die Kriminalromane immer eine Quelle des Realitätskonsums waren, spricht von einem "Hybridbuch". Und das trifft es in gleich mehrfacher Hinsicht – "Havarie" ist ein Dokufictionthrilleressayroman.

Und darüber, dass er jetzt – gut drei Jahre hat die Arbeit an ihm gedauert – geradezu als Reaktion, geradezu als literarischer Kommentar erscheint zu den Flüchtlingsbildern und -zahlen, zu den Nachrichten über die Tausende, die da beinahe wöchentlich und weltöffentlich sterben, ist Merle Kröger gar nicht glücklich. "Havarie" sollte alles andere werden, bloß nicht das Bewerbungsschreiben für die noch zu gründende Stelle der Flüchtlingsbeauftragten der deutschen Schriftstellerei.

"Havarie", sagt sie, sollte noch nicht einmal ein Buch über das Elend der Fliehenden werden, jedenfalls nicht primär. Sondern eines über das Mittelmeer, über den Alltag, darüber, wie sich dort Schicksale kreuzen, Schicksale, in denen immer Echos von Fluchten und Vertreibungen nachhallen. Geschichten von Menschen auf dem Meer wollte Merle Kröger erzählen, den Zahlen und Bildern etwas entgegensetzen, Hintergründe, Untergründe liefern, die Diskussion erden, die Debatte auf Augenhöhe mit jenen bringen, um die es eigentlich geht. In Geschichten, die jeder sammeln kann, für die man kein investigativer Journalist sein muss.

Auch deswegen wehrt sie sich dagegen, jetzt Flüchtlingssprecher zu werden. Wer etwas wissen will, der braucht nicht Merle Kröger. Der kann sie befragen, die Syrer, die Somalier. Es gibt Flüchtlingsorganisationen. Es gibt Flüchtlingssprecher. Es gab um die Ecke vom Kreuzberger Kunstquartier Bethanien, in dessen Biergarten wir uns gerade von Vögeln bezwitschern lassen, einen Infopavillon auf dem Oranienplatz.

Gut, der ist inzwischen abgebrannt. Das ändert aber nichts an der Informationslage. Damals in den Neunzigern, als Merle Kröger für Arte einen Themenabend gemacht hat – "Kein Mensch ist illegal" hieß der –, da war das anders, war es schwieriger, an die Geschichten zu kommen. Da waren die Menschen ohne Papiere tatsächlich beinahe unsichtbar. Jetzt, sagt Merle Kröger, repräsentieren die sich längst selbst, haben sich organisiert, haben sich Sprecher gewählt.

"Havarie" hat – das merkt man schon an der "Arte"-Geschichte – einen ziemlich langen Anlauf genommen. Vielleicht einen lebenslangen. Vielleicht hat alles schon damals in Plön angefangen. In der Großfamilie, die man sich irgendwie als klassisch und so heil vorstellen muss, wie klassische Großfamilien nun mal sind. Und in der dann ein Mädchen groß wurde, die Merle hieß (was übrigens aus dem Irischen kommt und so etwas wie "strahlendes Meer" bedeutet), aber irgendwie anders aussah. Jedenfalls anders, als man sich Plöner Merles vorstellt. Merle Kröger hat braune Augen, ihr Haar ist schwer und schwarz.

Eigentlich, sagt sie, sei sie ein "Fake". Sie hat einen indischen Vater. Das wusste sie lange nicht. Das sei auch nie ein Problem gewesen, nie kompliziert. "Ich war Teil der Familie, und die haben mich genommen, wie ich war. Ein Problem wird das erst, wenn einer kommt und fragt: ,Wo kommst du denn her?' Und dann stehst du da als Kind und fragst: ,Wieso?'" Sehr viel später hat sie hinter ihrem Vater hinterherrecherchiert. Einen Unterschied machte das dann nicht mehr. Sie war halt Merle Kröger. "Die Identität kannst du irgendwann nicht mehr ändern. Und den Namen würde ich nie wieder hergeben", sagt sie, und sie lacht, was sie doch ziemlich gern tut.

Zurück zum Hybridbuch. Das begann eigentlich in Portbou an der spanisch-französischen Grenze. Merle Kröger schrieb an "Grenzfall". Ein Krimi war das, der 1992 in einem lichterloh brennenden Feld am Portbou geradezu entgegengesetzten Rand Europas seinen Anfang nahm, an der deutsch-polnischen Grenze und mit zwei erschossenen Roma, die ein Jäger angeblich mit Wildschweinen verwechselt hatte. Die Geschichte hatte sich tatsächlich ereignet. Merle Kröger spürte den getöteten Roma nach, ließ ihre (halb indische) Detektivin Mattie Junghans hinter ihnen hersuchen. Ein Puzzle war am Ende dieser Roman, ein kriminalliterarisches Gesellschaftsstück über Flüchtlinge und die Mauern in Europa, ein Wimmelbild der biografischen Spuren und Figuren. Merle Kröger, die mit Philipp Scheffner aus dem Recherchematerial einen Dokumentarfilm über den Fall machte, ließ solange Geschichten aus der Faktensammlung wachsen, bis so etwas wie eine Wahrheit über den Fall ans literarische Licht kam.

Und nun stand sie also da, im Gedenkort für Walter Benjamin, der "Passagen" heißt, was als Überschrift über die Bücher der Merle Kröger ja auch ganz gut passen würde. Und stand vorne an der Scheibe, sah übers Meer, über das damals, als sich Benjamin das Leben nahm, die Menschen in die umgekehrte Richtung als heute flohen, und las den Satz aus den Notizen zu Benjamins letztem Aufsatz, der in die Glasplatte mit Meerblick eingraviert ist: "Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht."

Und sah übers Meer, das eines der am meisten befahrenen der Welt ist, und hatte eine Struktur im Kopf für ein neues Wimmelbild. Ein noch radikaleres. Einen Roman, das war ein alter Traum von ihr, "den man zur Spannungsliteratur zählt, der aber ohne dogmatisch und programmatisch, ohne moralisch zu werden, von den Umständen erzählt, die Gewalt hervorrufen".

Und so treffen sich also, es ist kurz vor zwei Uhr am Mittag, zwölf Seemeilen vor der spanischen Küste das Kreuzfahrtschiff "Spirit of Europe", ein algerisches Schlauchboot voller Flüchtlinge, ein Seenotrettungsschiff und ein unter ukrainischem Kommando stehender Frachter. Ein Sturm zieht auf. Dem Schlauchboot geht das Benzin aus. Das Dilemma ist da. Die "Spirit of Europe" stoppt.

Das ist das Bild. "Freeze frame" nennt man das im Kino. Der Film hält an, ein Bild friert fest. Von da aus spiegelt Merle Kröger in die Tiefe der Figuren. Zieht sie heraus, skizziert ihre Lebensläufe, lässt sie erzählen, von ihren Fluchtbewegungen, ihren Verletzungen, den Gespenstern, die sie überallhin begleiten: einen irischen Touristen, den algerischen Schlauchbootkapitän, den spanischen Seenotretter, die indische Angestellte vom Sicherheitsdienst der "Spirit of Europe", eine uralte Deutsche.

"Irgendwo", das wollte sie zeigen mit ihrem ausfransenden Geschichtenteppich von tausendundeiner Flucht, "trägt jeder von uns so eine Spur von Gewalt, von Krieg und Vertreibung in seiner Biografie, seinem Leben. Und ohne dass wir dieser Spuren selbst gewahr werden", davon ist sie überzeugt, "kommen wir nicht raus aus der Debatte über Zahlen und Bilder, kommen wir nicht zu einem Dialog, zu einer Annäherung an die Flüchtlinge".

Merle Krögers Havaristen fliehen vor Umweltzerstörung, vor Bürger- und Weltkrieg, vor Hunger und Elend. Das Meer der Geschichten, das der Roman überquert, ist tatsächlich ein Höllenschlund. Und in den mythischen Stunden, in denen Merle Krögers Figuren eingefroren sind, wird die Welt, die sich auf diesen vier Schiffen widerspiegelt, auf die Probe gestellt. Die Engführung der Geschichten ("Havarie" gleicht einer vielfachen Fuge, für jede der Linien hat Merle Kröger einen eigenen Ton gefunden), ihre Kontrapunktierung bringt sie immer wieder an einen Punkt, an dem sie sich entscheiden, bewähren müssen, "ein autonomes Denken und Handeln entwickeln, das nicht durch ihre Position, Herkunft, Nationalität, sondern aus ihrer eigenen Haltung heraus entsteht".

Ein Krimi sieht natürlich anders aus. Zwei Menschen sterben in "Havarie", ermordet wird keiner. Jedenfalls nicht auf irgendeine klassische Weise. Auch eine Ermittlung, eine Anklage findet nicht statt. Wen sollte man auch anklagen?

Überhaupt mag sie epische Literatur zwar, sagt Merle Kröger, sie mag aber keine schreiben. Weil sie (und schon allein deswegen ist sie vermutlich gar nicht in der Lage, einen klassischen Detektivroman vorzulegen) keine Lösungen hat für das, über das sie schreibt. Sonst, sagt sie, hätte sie ja auch Journalistin werden können. Sie will weiter fragmentarisch arbeiten, aus Storypuzzeln eine Geschichte bauen. Die Gottähnlichkeit, die ein allwissender Erzähler sich anmaßen muss, bringt sie nicht auf. Sie benutzt ihre Figuren dementsprechend nicht, sie folgt ihnen bloß. "Havarie" ist genau deswegen ein todernstes, aber zugleich ein komplett unideologisches Buch geworden.

Ganz unutopisch ist es allerdings nicht. Eine Hoffnung nämlich zieht sich durch "Havarie". Dass man sich immer entscheiden kann, dass moralisches Handeln möglich ist – auch in einer manch einem angesichts der Nachrichtenlage dystopisch erscheinenden Gegenwart.