Die Welt ist auf dem Mittelmeer – Algerier im Schlauchboot, Ukrainer und Russen auf einem Frachter, Spanier auf einem Seenotrettungsschiff, Touristen und Crew aus aller Herren Länder (der Ausdruck ist angebracht) auf einem Luxusliner, die einen mit Cocktails am Pool, die anderen schuften Wechselschicht in der Wäscherei.
Plötzlich bleibt sie stehen, die Welt, als die Schiffe sich treffen, da auf dem Mittelmeer, angehalten von den Regeln. Die eine besagt, dass die glitzernde Europe of Spirit die Flüchtlinge im benzinlosen Schlauchboot nicht an Bord nehmen muss, die andere, dass sie Menschen in Seenot nicht ihrem Schicksal überlassen darf. Also stoppt der Koloss und die Reichen gucken auf die Menschen im Bötchen herab, als habe man sie eigens zu ihrer Unterhaltung da, 12 Seemeilen von der spanischen Küste entfernt, drapiert. Es wird gefilmt und geklatscht, Häme, Ärger, Spott. Sie sind schließlich ziemlich weit weg, die Menschlein da unten, man kann kaum erkennen, wie viele es sind. Je weiter weg ein Schicksal, umso weniger geht es uns an, nicht? Man vergleiche das Mitgefühl von Bomberpiloten (s. „Dynamik der Gewalt“, Randall Collins).
Merle Kröger gibt nicht nur Karim, Algerier und „Schlepper“, seine Geschichte, sondern auch der Parkinson geschüttelten deutschen Jüdin, der nepalesischen Lalita, Gurkha und Security, dem Sänger Jo, Filipino, oder Diego, dem Retter, Fischer, Spanier. Elf Geschichten von Menschen verknüpft Merle Kröger, geboren 1967 in Plön, mit dem Ort, an dem sie sich begegnen, mit ihren Familiengeschichten, mit der Weltgeschichte, von der das Mittelmeer beladen ist, Kultur und Tod drum herum und mittendrin. Keiner von ihnen ist „böse“. Jeder hat Bestrebungen und Interessen, nach einem besseren Leben z. B. oder nach einem Leben überhaupt, nimmt man den „Illegalen“ Marwan aus Syrien, Chirurg, kriegstraumatisiert und schließlich schwerverletzt. Der Security-Chief Nike, Inder, muss ihn los werden, ohne Kosten zu verursachen, das würde seiner Karriere schaden. Auch er will ein besseres Leben im aufstrebenden Indien und ist, machtmotiviert, durchaus am richtigen Platz auf dem Luxusdampfer. Oder der erste Offizier Léon, Franzose, der mit einem Trick den Bootsleuten hilft, nicht ohne eigenen Gewinn.
Doch nicht nur den Menschen im Boot ist klar, wie brüchig das Jetzt ist. Auch die Bestgesicherten auf den oberen Decks („Überwachung nützt gar nichts. Du siehst alles. Und du weißt nichts.“) können in Gefahr geraten. Erpresst zu werden z.B., von jemandem, von dem man es am allerwenigsten erwarten würde. Es ist eben auch keiner „gut“ von den Leuten da.
Aus Splittern, Versatzstücken, Spots und Patches gestaltet Merle Kröger ein dreidimensionales Mosaik in Ort, Zeit und kultureller Reflexion. Auf jeder Seite des Romans finden sich das Jetzt im Strom der Geschichte und das Individuelle im Globalen. Wie viel Recherche dies bedeutet haben mag, ist nur zu erahnen, denn die Figuren und Ereignisse sind stark an der Realität orientiert. Dies ist im neuen Roman nicht anders als in „Grenzfall“, der auf einem tatsächlichen Ereignis, dem Tod zweier Roma auf einem Feld in Vorpommern, beruht, und aus der Recherche zu einem Dokumentarfilm entstand. Auf CULTurMAG erfährt man Genaueres im Interview von Ulrich Noller mit Merle Kröger. War „Grenzfall“ schon ein außerordentlicher Roman, der 2013 mit dem Deutschen Krimipreis gewürdigt wurde, ist „Havarie“ eine Meisterleistung an Dichte, Genauigkeit, Humanität und Brillanz. Dieses bildstarke, intensive und brisante Stück Kriminalliteratur der Filmproduzentin, die Merle Kröger auch ist, wäre gut als Spielfilm denkbar. Und wünschenswert wäre das, denn die Geschichte von den Menschen aus aller Welt, ihren Träumen, ihrem Versagen, ihrem Tod könnte viele Menschen mit ähnlichen Geschichten erreichen.